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Die Anfänge des Kunstradfahrens

Radfahren bereichert unser Leben, denken wir nur an die vielen Funktionen und die große Bedeutung des Fahrrades in unserer Gesellschaft. Mit der Erfindung der Laufmaschine im Jahre 1817 (s. Abb. 1) durch Karl Freiherr von Drais begann der Siegeszug eines Fortbewegungsmittels, mit dessen Hilfe der Mensch die eigenen Kräfte zur Erhöhung seiner Mobilität einsetzt. Die Weiterentwicklung zum Fahrrad („Velociped“) brachte Kon­struktionen, wie Tretkurbelrad (s. Abb. 2), Hochrad und das „Kangaroo“, einem Hochrad mit beidseitigem Kettenantrieb am Vorderrad (s. Abb. 3) hervor, bis diese schließlich durch das Niederrad („Safety“) Ende des 19. Jahrhunderts (Jh.) verdrängt wurden. Mit der Erfindung des luftgefüllten Reifens im Jahr 1888 und der Freilaufnabe entwickelte sich das Fahrrad zum allgemeinen Volksver­kehrsmittel.

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Abb. 1: Karl Freiherr von Drais auf seiner Laufmaschine.

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Abb. 2: Das Tretkurbelrad von Ernest Michaux .

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Abb. 3: Das „Kangaroo-Rad“ mit Zahnrädern und Kettenübertragung.

Heutzutage existieren viele Sportarten, die mit dem Fahrrad ausgeführt werden. Radrennen sowie Kunstradfahren gehören zu den ältesten Formen des Radsports. Letzteres, welches Eleganz mit zirkusreifem technischem Können verbindet, nahm seinen Anfang mit der Erfindung des Hochrades in den 80er Jahren des 19. Jh. Das Fahrrad als Volksverkehrsmittel erfreute sich damals großer Beliebtheit und die Mitglieder der Radfahrvereine (RV) wollten in der ungünstigen Jahreszeit nicht auf das Radfahren verzichten. Sie verlegten es im Winter in überdachte Räume. Die Beherrschung des Fahrrades in alle Richtungen auf einer begrenzten Fläche galt es hier zu vervollkommnen. Dieses Üben führte schließ­lich zur Ausführung gemeinschaftlicher Figuren, was sich zum Reigenfahren, bestehend aus sechs oder mehr Personen, entwickelte. Besonders gute Fahrer gingen dazu über, akrobatische Kunststücke im Alleingang auf ihren Rädern zu trainieren. Dies führte zu den Anfängen des 1er-Kunstradfahrens.

 

Der Amerikaner Nicholas „Nick“ Edward Kaufmann machte sich diese Kunst auf dem Fahrrad zur Lebensaufgabe und wird in den meisten Quellen als Erfinder des Kunstradfahrens und des Radballspiels genannt. Er war es auch, der diesen Sport von Amerika nach Europa brachte und für dessen Verbreitung in der Welt sorgte.

 

Besonders Frankreich leistete Pionierarbeit, auch im Blick auf das Kunstradfahren. In Paris gab es 1869 einen großen Übungssaal der Pariser Velocipeden-Vereinigung zum Erlernen des Rad- und Kunstradfahrens (Abb. 4). In Deutschland gehörte die Nummer des Magdeburger Velocipeden-Clubs „Teufel im Kniehang“ aus dem Jahr 1874, welche anlässlich seines ersten Saalsportfestes präsentiert wurde, zu den ersten Aufführungen im Kunstrad­fahren (Abb. 5).

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Abb. 4: Training im Kunstradfahren auf mit Eisenreifen beschlagenen „Michaulinen“ im großen Übungssaal der Velocipeden-Vereinigung in Paris um das Jahr 1869.

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Abb. 5: Die Aufführung „Teufel im Kniehang“ des Magdeburger Velocipeden-Clubs im Jahr 1874.

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Abb. 6: Hochradrennen um den Titel „Meister-fahrer von Deutschland und Österreich“ auf der Leipziger Moritzburgbahn in den 80er Jahren des 19. Jh.

Was die Anfänge des Kunstradfahrens betrifft, so muss es also eine parallele Entwicklung in mehreren Ländern gegeben haben, wobei Frankreich (Paris), die USA (New York), Schottland und Deutschland in der Literatur aufgeführt werden.

Als das Kunstradfahren  noch in den Anfängen steckte, war der Radrennsport schon sehr populär. Die Abb. 6 verdeutlicht, welche Begeisterung das Radrennen damals hervorrief.

Nicholas Kaufmann zeigte oftmals in den Veranstaltungspausen einige Kunststücke auf dem Hochrad, welche das Publikum faszinierten. Schon in den 80er Jahren des 19. Jh. war es bei Radrennen keine Seltenheit, die Pausen zwischen den Wettbewerben mit Kunstfahren auf dem Hochrad als „Lückenfüller“ zu schließen. Das Interesse an dieser Radakrobatik stieg in den folgenden Jahren an. Durch Vorführungen bei diversen Radsportveranstaltungen erreichte das Kunstradfahren einen hohen Bekanntheitsgrad, so dass es in den 90er Jahren zur Austragung von eigenen Meisterschaften kam. Die Teilnehmer waren wie Kaufmann, der seine berufliche Tätigkeit für den Sport aufgab, professionelle Fahrer. Sie verdienten damit ihr Geld. Die Amateure ließen aber mit der Ausbreitung des Kunstradfahrens in den Vereinen ab den 90er Jahren nicht lange auf sich warten. Jeder Radfahrerverband ging dazu über, seine eigenen Wettkämpfe im Reigen- und Kunstfahren auszurichten. In Varietés und im Zirkus fanden die Berufsfahrer als Artisten zunehmend ihren Platz.

Nach der Einführung des Kunstradsports in Europa im Jahr 1886 durch Nicholas Kaufmann stieg die Anzahl an aktiven Fahrern sehr schnell an. In Deutschland zeigte er sein Können erstmals im August 1886 anlässlich des dritten Bundestages des Deutschen Radfahrer-Bundes (DRB) in Berlin. Neben Kaufmann waren damals unter anderem Felix Brunner (Meisterfahrer der Allgemeinen Radfahrer-Union (ARU)), Gustav Döring (Meisterfahrer des Oberlausitzer Radfahrer-Verbandes), Gustav Marschner aus Bautzen und der Franzose Auguste Gouget als Kunstradfahrer bekannt.

Die eigentlichen Geburtsjahre des Kunstradsports werden heutzutage zwischen 1895 und 1900 mit dem Aufkommen des Niederrades in Verbindung gebracht. Paul Lüders vom Berliner Radfahrverein „Sport-Berolina“ machte als Kunstradfahrer und Radballspieler in dieser Zeit auf sich aufmerksam. Die vorherige Entwicklung auf dem Hochrad kann als Vorläufer oder Wegbereiter des heutigen Kunstradfahrens bezeichnet werden.

Die ersten Anleitungen zum Kunst- und Reigenfahren

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Mit der Entwicklung des Hochrades in den 80er Jahren des 19. Jh. wurden auch die ersten Leitfäden zum Reigen- und Kunstfahren geschrieben. Sie erhielten damals großen Zuspruch und waren sehr beliebt. Überall dort, wo man diesen neuen Sport ausübte, dienten sie als Grundlage. Robert Höfers „Illustrierter Leitfaden für das Reigen-Fahren beim Radfahr­sport“ sowie sein Leitfaden für das Kunstfahren auf dem Hochrad zählten zu den ersten Anleitungen. Das in der damaligen Zeit wohl ausführlichste Werk „Die hohe Schule des Rades“ von Lothar Nitz aus dem Jahr 1907 veranschaulicht an über 900 Bildern alles bis dahin Dargebotene im Saalsport. Diese Anleitungen beziehen sich jedoch allesamt auf das Fahren auf dem Niederrad, wäh­rend das 1888 entstandene Werk, „Das Fahren und Kunstfahren auf dem Zwei- und Einrad“ von Wilhelm Gabriel, neben Höfers Leitfaden die Kunst des Hochradfahrens behandelte.

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Abb. 7: 1er-Kunstfahren auf dem Hochrad. „Schwung zum Fahren vor der Lenkstange, vorwärts und zurück“ (A). „Schulterstand“ (B).

Entwicklung des Kunstradfahrens in verschiedenen Formen

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Der Übergang vom Hochrad zum Niederrad, ein bedeutsamer Schritt in der Entwick­lungsgeschichte des Fahrrades, vollzog sich im Saalsport um das Jahr 1895. Im Kunstfah­ren hielt sich das Hochrad einige Jahre länger als im Reigenfahren, bis es auch hier schließlich ganz verschwand. Diese beiden existierenden Saalsportarten differenzierten sich in den Folgejahren immer mehr aus. Im Kunstfahren grenzte man um die Jahrhundert­wende das 1er- vom 2er-, 3er- und 4er-Kunstfahren ab.

Das 1er-Kunstfahren, am Anfang des 20. Jh. auch Solokunstfahren genannt, zählt neben dem Reigenfahren zu den ursprünglichen Formen des Kunstradfahrens. Auf dem Hochrad waren schon allerlei Kunststücke möglich, deren Anzahl mit dem Aufkommen des Nieder­rades enorm anstieg (s. Abb. 7). Allen bisher genannten Übungen war gemeinsam, dass der Sportler die eingenommene Po­sition über die gesamte Fahrstrecke beibehielt. Wurden die Stellungen permanent gewech­selt, nannte man diese Übungen zu Beginn des 20. Jh. „Turen am Rade“. Eine sehr beliebte Tur war der „Gang um das Rad“. Hierbei turnte der Sportler einmal vollständig um das Vorderrad, bis er wieder die Ausgangsstellung erreichte. Die höchsten Anforderungen an den Kunstradfahrer stellten die sog. „Gipfelübungen“.

In den 90er Jahren des 19. Jh. entstand das 2er-Kunstfahren. Als das Niederrad sich immer mehr durchsetzte, erlebte diese Dis­ziplin einen Aufschwung. Am bekanntesten war das Fahren zu zweit auf einem Fahrrad (s. Abb. 8A). Die Übungen mit Schulterbelastung in den verschiedenen Steigerpositionen wa­ren zu Beginn des 20. Jh. unbekannt.

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Abb. 8: Übungen zweier Personen auf einem Hochrad. (A). Übungen im 3er- und  4er-Kunstfahren zu Beginn des 20. Jh. Der „Reitsitz-Kehrlenkerstand-Frontsattelstand mit Ringgriff“ (B).

Die ersten Versuche im 3er- und 4er-Kunstfahren fanden, wie das 2er-Kunstfahren, auf dem Hochrad statt. Mit dem Aufkommen des Niederrades nahm auch hier die Mannigfal­tigkeit der Übungen zu. Beim 3er-Kunstfahren turnten drei Sportler auf einem, zwei oder drei Fahrrädern (Abb. 8B). Im 4er-Kunstfahren unterschied man vier Fahrer auf einem, zwei, drei oder vier Rädern. Als schönste und formenreichste Variante wurde zu Beginn des 20. Jh. das 3er-Kunstfahren gesehen.

Unter „Reigenfahren“ wird heute im Kunstradsport immer noch das Fahren zusammenhän­gender Übungen von vier oder sechs Personen gleichzeitig mit Sitz im Sattel verstanden. Dieser Begriff kann jedoch gegenwärtig als altertümlich bezeichnet werden. Viel häufiger spricht man derzeit vom „Mannschaftsfahren“. Zu Beginn des 20. Jh. bedingte das Reigenfahren die Teilnahme von mindestens sechs Personen. Mannschaf­ten mit sechs und acht Sportlern waren am häufigsten. 12er- und 16er-Reigen gab es auch, sie waren jedoch selten.

Um das Jahr 1900 differenzierte man zwischen den beiden Disziplinen „Schul- und Kunst­reigen“, welche um 1940 in „6er-Gruppen- und 6er-Kunstfahren“ umbenannt wurden. In dieser Zeit vollzog sich ein vollständiger Wandel hin zum Reigenfahren mit ausschließlich sechs Sportlern pro Mannschaft. Im Schulreigen waren einzelnes Anhalten, Rückwärts-, Freihändig- und Steigerfahren sowie bestimmte Elemente, wie beispielsweise der „Ring“ und „der Rattenschwanz“ verboten. Im Kunstreigen, den man auch als Weiterentwicklung des Schulreigens bezeichnete, gab es hinsichtlich der Übungen kei­ne Einschränkungen. Das Kunstreigenfahren beinhaltete in den 20er Jahren des 20. Jh. auch das Mannschafts­fahren im „Steuerrohrsteiger“ und auf dem Einrad.

 Zu den bekanntesten Variationen des Schulreigens zählten damals:

 

  • der Schmuck- oder Blumenreigen

  • der Lichtreigen

  • der Farbenreigen

  • der Tonreigen

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Im „Schmuckreigen“ waren die Fahrer und deren Räder mit Blumen, Bändern und Wim­peln geschmückt. Die Ausschreibung von Wettbewerben, welche eher selten stattfanden, musste Angaben zur Art und Farbe des zulässigen Schmuckes enthalten. Im „Lichtereigen“ wurden die Speichen der Fahrräder mit kleinen Lämpchen versehen. Seine Wirkung er­zielte dieser Reigen im abgedunkelten Saal. Im „Farbenreigen“ waren die Sportler einer Mannschaft mit verschiedenen Farben verziert. Diese durften nur durch angelegten äuße­ren Schmuck, nicht aber durch bunte Kleidung zustande kommen. Ziel war es, im Fahren gute Farbzusammen-stellungen wechselnd zu zeigen. Beim „Tonrei­gen“ wurde im Takt eines Musikstückes gefahren. Diese Form gab es nur als Showeinlage, genauso wie der damals bekannte „Kostümreigen“. Bei diesem ging es durch kreative Kleidungsstücke um die Darstellung eines Lebens- oder Phantasiebildes. Er zählte weder als Schul- noch als Kunstreigen.

Neben den beschriebenen Saaldisziplinen entwickelten sich Ende des 19. Jh. weitere For­men des Radfahrens, wie beispielsweise das „Wanderfahren“, das „Korsofahren“ oder die „Fuchsjagden“ in der freien Natur. Bei Ersterem wurden Strecken von 30 bis 60 Kilome­tern pro Tag über meist zwei bis vier Wochen zurückgelegt. Das Kennenlernen von Land und Leuten sowie die vielfältigen Sinneseindrücke spielten bei dieser Form des Radfahrens eine große Rolle. Die damals bekannten Fuchsjagden sind mit dem Spiel „Fangen“ zu ver­gleichen, nur dass eben auf Fahrrädern agiert wurde. Das Kor­sofahren war, wie das Reigenfahren, eine Form des Mannschaftsfahrens. Es trat jedoch nicht nur ein kleiner Teil des Vereins auf, sondern sämtliche Mitglieder nahmen daran teil. Dieser Zweig des Radfahrens war in den Radfahrervereinen sehr beliebt und stärkte durch das geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit den Zusammenhalt. Besonders der Ge­winn von Preisen verhalf manch einem Verein zu neuer Kraft und Stärke. Aufgestellt in Reih und Glied, mit dem Vereinsbanner an der Spitze, präsentierten sich die Vereine auf Fahrrädern den Zuschauern (s. Abb. 9).

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Abb.9: Die Budenheimer Radfahrer während des Blumenkorsos anlässlich des Bezirksfests im Jahre 1960. Aus dem Archiv des Radsportverbandes Rheinhessen.

Sandra Martin

Quellen:

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Bittendorf, K. (1978). Geschichtliche Entwicklung des Kunstradfahrens. In L. Böhm & H. Born (Hrsg.), Das Kunstradfahren (S. 8–23). Emmendingen: Kesselring.

 

Brucker, O. (1986). Von Nickolaus Kaufmann bis Jürgen Kessler. Olympisches Feuer, 36 (5), 63‑‑67.

 

Bund Deutscher Radfahrer e. V. (Hrsg.). (1953). Wettfahrbestimmungen des Bundes Deutscher Rad­fahrer für

Kunst- und Gruppenfahren. Druck: Braunschweig, Claus-Druck.

 

Höfer, R. (1905). Illustrierter Leitfaden für das Reigen-Fahren beim Radfahrsport. (9. Auflage). Leipzig: Rauh

& Pohle.

 

Lange, W. & Franosch H. (1927). Der Reigenfahrer und Radballspieler. Amtliches Lehrbuch der Vereinigung Deutscher Radsport-Verbände. Druck: Pulsnitz i. Sa., Hoffmann.

 

Müller, J. (nach 1899). Der Kunst-Radfahrer. Leitfaden für jeden Freund des Radsports. Kunst-Rad­fahren, Rad-Ballspiel, Rad-Polospiel. Lucka S.-A.: Selbstverlag.

 

Nationalsozialistischer Reichbund für Leibesübungen (1942). Der Hallenradsport. Lehrbuch mit Son­derbestimmungen und Wertungstabellen. Berlin-Charlottenburg: Haus des Sports.

 

Nitz, L. (1907). Die hohe Schule des Rades. Ein Lern- und Lehrbuch für alle Freunde des Radfahr­sportes im Saal und im Freien, auf der Bahn und der Landstraße. Berlin: Selbstverlag.

 

Radfahrer-Club 1925 Delkenheim e. V. (Hrsg.). (1982). WM ´82. Weltmeisterschaften Hallenradsport. Kunstradfahren× Rad­ball. Druck: Wiesbaden, Weitzel.

 

 

Radfahrer-Verein 1905 Ober-Olm e. V. (Hrsg.). (2005). Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Radfahrer-Vereins 1905 Ober-Olm e. V. Druck: Klein-Winternheim, Friedrich.

 

Rabenstein, R. (1996). Radsport und Gesellschaft. Ihre sozial­geschichtlichen Zusammenhänge in der Zeit von 1867 bis 1914.

 

Sauerzweig, V. & Zimmermann-Krause, U. L. (2006). Exotischer Sport auf ottonischem Boden (1. Auflage).

Magdeburg: Ost-Nordost Verlag.

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